Ich saß im ICE auf dem Weg nach Zürich und hatte einen großen Stein im Magen. Eigentlich reiste ich geschäftlich dorthin, ich sollte auf einer Messe dabei sein. Als man mich fragte, ob ich die Reise antreten wolle, hatte noch ein kleines Flämmchen in mir gelodert, wie so oft, wenn ich die Möglichkeit zum Reisen bekomme, und ich hatte sofort zugesagt. Je näher der Termin jedoch rückte, desto schwerer wurde mir ums Herz. Und nun saß ich neben meinem kleinen Koffer im Zug, der mich Meter um Meter tiefer in die (dunkle) Schweiz brachte (es war bereits spät am Abend) und ich fühlte mich wie die leibhaftige Mary Stuart auf dem Weg zum Schafott.
Pünktlich zu meiner Reise hatte die Kälte Einzug gehalten und ich hatte nicht daran gedacht, dicke Pullover mitzunehmen. Als ich endlich mein Hotel erreichte, war ich durchgefroren. Kurze Zeit später schlossen sich die engen Wände meines mickrigen Hotelzimmers um mich und ich fühlte mich alleine und wie lebendig begraben. Das Zimmer barg fast keinerlei Annehmlichkeiten, sogar einen Haartrockner musste man sich an der Rezeption gegen ein Pfand ausborgen. Direkt neben dem Bett befand sich das Waschbecken, die Dusche war nicht mehr als eine Tupperbox in Lebensgröße und dass am Wasserhahn eine ölige All-in-One Duschgel-Shampoo-Seifen-Tube baumelte, war fast noch überraschend positiv.
Eigentlich brauche ich keinen sonderlichen Komfort oder Luxus. Ich habe in Paris schon in einem Zimmer genächtigt, das in einem weit schäbigeren Zustand gewesen war. Dort war ich jedoch nicht alleine gewesen. Hier in Zürich jedoch, da fühlte ich mich von aller Welt verlassen.
Und dass das dämlich und übertrieben war, war mir mehr als bewusst. Aber ich konnte nicht anders. Ich habe das Reisen und Entdecken fremder Gegenden und Lebensweisen schon als Kind geliebt. Niemals ließ ich eine Möglichkeit aus, meine gewohnte Umgebung zu verlassen. Meine Großmutter nannte mich, politisch inkorrekt wie sie nun mal war, „Zigeunermädchen“. Wo ich Neues entdecken konnte, da lebte ich auf, da war ich lebendiger als in meinem Alltag (auch, wenn ich den auch mochte).
Was hatte sich geändert?
Nun.
Vor über zehn Jahren bekam ich auf einem Spinnig-Bike im Fitnessstudio Todesangst. Mein Herz schlug wie wild, vor meinen Augen wurde es schwarz und der Raum drehte sich um mich. Das ganze Spektakel spielte sich immer öfter in meinem Alltag ab, bis ich herausfand: Ich hatte eine Angststörung und meine kurzen Todesangst-Intermezzi waren Panikattacken. Seitdem lebe ich damit – inzwischen sogar ziemlich gut. Das Reisen hat mich längst wieder, doch manchmal erfordert es mehr Kraft als früher.
So war es in Zürich. Ich kam dort mit mehr Gepäck an als sich in meinem kleinen Köfferchen befand. Ich hatte einen Kloß im Hals und einen Bleiklotz im Magen und eine Last auf der Seele, die ich eigentlich nie richtig benennen kann. Aber nun war ich da und würde das schon „irgendwie überstehen“.
Der nächste Morgen kam und das magere Frühstück konnte meine Laune nicht heben. Ich bin in Sachen Kaffee nicht penibel, ich trinke eher einen schlechten Kaffee als gar keinen. Doch die Plörre, die ich mir in meiner Unterkunft zapfte, hatte nicht das geringste mit Kaffee zu tun. Dann riss mir mein Gürtel, als ich ihn enger ziehen wollte und ich kapitulierte vor der Kälte und zog statt der eleganten Pumps meine Schnürstiefeletten an. Ich hatte das Gefühl underdressed zu sein und zu allem Übel verlief ich mich auf der Baustelle und kam etwas zu spät auf der Messe an. Zwölf Stunden lagen vor mir und am Stand war einzig ein Schweizer Kollege, den ich bislang noch nicht kennengelernt hatte. Ich fühlte mich kurzzeitig bestraft. Doch nach einer halben Stunde kam mein Kollege mit einem Becher Kaffee und einem Croissant für mich vom Catering zurück und meine Laune hob sich leicht.
„Warst du schon einmal in Zürich?“ fragte er mich, während wir unsere Kaffees tranken und ich antwortete wahrheitsgemäß „Nein, noch nie.“ Das konnte mein Kollege so offenbar nicht stehen lassen. Er machte einen prima Job, sah megakompetent aus in seinem Anzug und den blank polierten Schuhen. Sein weniges graues Haar ließ ihn eloquent erscheinen und er verwickelte die Leute, die an unseren Stand kamen, locker und freundlich in Gespräche. Ich tat mir da schwerer. Meistens konnte ich die Schweizer nicht einmal ansatzweise verstehen. Was sie zu mir sagten hätte ebenso gut ein Hustenanfall sein können. Gab ich ihnen Antwort, fragten viele zurück: „Aaah, Hochdütsch?“. Ich nickte erleichtert, sie redeten „Hochdütsch“ und ich verstand genau so wenig wie zuvor.
Gegen Mittag öffnete mein Kollege schließlich ein neues Fenster am Computer und rief einen Stadtplan von Zürich auf. „Pass auf: Du fährst mit der Linie 4 bis zum Bahnhofsplatz. Dort steigst du aus und gehst am Limmatufer entlang bis zum Zürichsee. Wenn du magst, kannst du den Bellevue anschauen. Auf dem Rückweg gehst du auf der anderen Seite die Bahnhofstraße entlang – das ist die schönste Einkaufsstraße in Zürich. Dann kannst du mit der Linie 4 wieder hierher zurückfahren. Geh ruhig zwei Stunden. Bleib ruhig länger, wenn du möchtest.“ Mein erster Reflex war: „Nein! Bitte nicht!“ (in meinem Kopf). Nun hatte ich in die sicheren Wände des Messegeländes gefunden. Mir könnte doch alles mögliche widerfahren, wenn ich alleine in der großen Stadt herumliefe. Hier hatte ich die Lage doch wenigstens einigermaßen im Griff. Aber dann meldete sich doch wieder das Flämmchen in meinem Bauch. Mir wurde Zürich gerade nahezu zu Füßen gelegt – die Chance, diese drei Tage nicht nur zu überleben, sondern tatsächlich zu er-leben. Und ich wusste, ich hätte es mir nicht verziehen, wenn ich dieses Geschenk nicht angenommen hätte.
Also zog ich los. Ich stieg ohne Probleme am Bahnhofsplatz aus. Die Limmat, den Fluß, der durch Zürich fließt, zu finden, war noch leichter. Kerzengerade durchschnitt sie Zürich in Richtung des Zürichsees, der in der Ferne schon zu erahnen war. Links und rechts schmiegten sich hübsche, aufgeräumt und herrschaftlich wirkende Häuser ans Flussufer. Allein der Anblick, der sich mir nun bot, ließ mein Herz einen Sprung machen. Ich war in Zürich – und es begann mir zu gefallen.
Der graue Himmel ließ die Stadt etwas ernst wirken und machte mich irgendwie sentimental. Ich entdeckte die Weihnachtsdekoration in Form von „Bäumen“ am Flussufer und fand sie sehr schön.
Wäre Zürich ein menschliches Wesen, dann wäre sie selbstbewusst, ein wenig konservativ, aber elegant mit einem liebevollen Herzen und dem Blick für das Schöne. Jemand, der Wert auf Tradition legt und bewahren will, was gut und schön ist, aber auch offen ist für Neues.
Dass Liebespaare hier Liebesschlösser an die Brücke schließen, konnte ich auf jeden Fall gut verstehen. Ich wünschte mir, ich hätte selbst eins dabei gehabt.
Dem klassisch-eleganten Grau ringsherum trotzten die Liebesschlösser jedenfalls spielerisch ein paar Farben ab.
Kurze Zeit später kam ich endlich am Zürichsee an. Am Pier sah ich schon von Weitem eine Horde Möwen, die von zwei älteren Damen mit Brotstückchen angelockt worden waren. Die beiden Frauen lachten vergnügt, während die Möwen um sie herum kreisten. Es war atemberaubend.
Ein paar tolle Fotos mit Möwen-Fotobomb zu schießen, war fast sogar ein Kinderspiel.
Schon längst hatte ich ein Lächeln auf dem Gesicht und mir fiel das Croissant wieder ein, das ich mir als Wegzehrung in die Tasche gesteckt hatte. Langsam hatte die Anspannung nachgelassen und ich bekam Appetit darauf. Natürlich musste ich das Gebäck mit den Möwen teilen.
Danach spazierte ich noch eine Weile am Ufer des Zürichsees entlang und bewunderte unter anderem das farbenfrohe schwimmende Varieté.
Dann setzte ich mich irgendwo einfach kurz hin und ließ alles auf mich wirken. Ich war alleine in einer mir unbekannten Stadt in einem anderen Land und ich fand es gerade absolut großartig. Auch wenn ich mir ein bisschen blöd dabei vorkam – ein Selfie musste dann schon als Beweisfoto her. Wenn auch nur ein halbes.
Dann ließ ich mich weitertreiben und wurde wenig später von den hübschen kleinen Holzbüdchen eines Weihnachtsmarktes am Bellevue angelockt. Selbstverständlich musste ich da hin. Und selbstverständlich war der Weihnachtsmarkt in Zürich nicht mit einem quietschbunten Karussell mit schrillenden Hupen und grellen Lichtern bestückt, sondern mit einem wunderhübschen alten Karussell mit Kutschen und Pferden.
Auch der Weihnachtsbaum war prächtig.
Ich beschloss, dass die neu erwachte Zürich-Liebe nun auch noch durch den Magen gehen müsse. Die Möglichkeiten waren riesig, der Weihnachtsmarkt war sozusagen ein Streetfoodfestival mit Weihnachtsmotto.
Doch, was ich essen würde, war relativ schnell klar: Natürlich ein echtes Schweizer Raclette.
Es war – wie drücke ich mich am besten aus? – der Hammer!
Nun blieb noch die Bahnhofstraße mit den vielen (teuren) Geschäften. Ich bewunderte aufwändig geschmückte Schaufenster. Widerstand dem Shoppingrausch nicht nur deswegen, weil ich mich hier selbst leicht in den Ruin hätte treiben können, aber stoppte unverhältnismäßig lange vor den Auslagen eines wunderschön dekorierten Schokoladengeschäfts. Die Zimmerdecke war behangen mit Zweigen voller Lichterketten, der ganze Laden sah aus wie ein Weihnachtswunderland. Und dazu dann noch köstlich angerichtete Schokoladenpralinen.
Als ich etwas später – ich hatte wirklich etwas länger als zwei Stunden gebraucht – wieder auf der Messe war, hatte ich neuen Schwung. Ich hätte schwören können, dass ich auch die Schweizer nun besser verstehen konnte. Die nächsten sechs Stunden verflogen nahezu und – zum Glück – leerte sich die Messehalle früher als erwartet. Mein Kollege lächelte kurz darauf unternehmungslustig und zwinkerte mir zu. „Hast du heute Abend noch Pläne?“ Ich verneinte.
Dann öffnete er erneut den Stadtplan am PC und tippte mit dem Finger auf den Bildschirm. „Dann geh später im Dunkeln nochmal in die Bahnhofstraße zurück. Die Beleuchtung dort ist sehr schön. Nichts besonderes zwar, aber sehr eindrucksvoll.“
Ich war dankbar für den Tipp und eine Stunde später stand ich erneut in der Bahnhofstraße und mir stockte der Atem. „Nichts besonderes“ traf es in meinen Augen nicht einmal ansatzweise. Über die gesamte Straße ging ein regelrechter Sternenregen hernieder.
Staunend wie ein Kind schritt ich die Straße auf und ab und konnte meinen Blick nicht abwenden. Zürich hatte mich verzaubert, es kam mir vor wie ein frühes Weihnachtswunder. Ich war so dankbar hier sein zu können, so froh, mir einen Ruck gegeben zu haben. Der Stein in meinem Magen hatte sich in tausend Lichter aufgelöst.
Und wäre ich im Vorhinein nicht so Maria-Stuart-mäßig drauf gewesen, hätte ich sicherlich auch meine Kamera eingepackt und wäre besser ausgerüstet gewesen.
Am nächsten Morgen stand ich dann wieder mit meinem Köfferchen – aber ohne Stein im Bauch oder Kloß im Hals – am Bahnhof und ein übergroßer Svarowski-Weihnachtsbaum zwinkerte mir aufmunternd zu.
Diese drei Tage in Zürich, von denen ich gedacht hatte, dass sie mich auslaugen würden, hatten mir tatsächlich einen Energieschub und einen riesigen Haufen Lebensfreude beschert. Ich kehrte nach Deutschland zurück und hatte Weihnachtsvorfreude im Gepäck und das wissen, dass mehr Feuer in mir steckt, als ich oft denke. Das „Zigeunermädchen“ steckt immer noch in mir und die Mühe, es hin und wieder hervorzulocken, lohnt sich so sehr. Es ist doch tröstlich zu wissen, dass die Welt, die uns so oft furchtbar und beängstigend erscheint, auch so viel Schönes bereithält.