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Lovely London – Wie eine Stadt mir zeigte, wie man seine Vergangenheit lieben lernt

London! Diese Stadt war für mich immer so ein bisschen das, was das hohe Burgfräulein für die Minnesänger im Mittelalter waren: Die unerreichbare Schöne, die ich aus der Ferne bewunderte.

Nicht, weil London so besonders weit weg wäre. Nicht weil eine Reise nach London unerschwinglich wäre. Es hatte einfach irgendwie nie sein sollen. Ich war einige Male fast in London gewesen – aber in letzter Sekunde war  immer doch wieder etwas dazwischen gekommen.

So kam es mir ein bisschen vor wie im Traum, als ich zusammen mit meiner Freundin an unserem ersten Abend in London auf der Tower-Bridge stand, zimtig-schokoladigen Cappuccino to go schlürfte und den Geruch von karamellisierten Erdnüssen tief einatmete, während wir auf die nächtliche Themse schauten. Es war unglaublich magisch – ich fühlte mich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Nur dass es eben Abend war.

Den nächsten Tag verbrachte ich in Euphorie und mit großen Augen. London war genau das, was ich mir immer vorgestellt hatte. Aber doch irgendwie mehr.

Schon auf dem Weg vom Flughafen hatte ich aus den Fenstern des Stansted-Express‘ malerische Landhäuser auf weitläufigen Wiesen gesehen. Und auch in London sah vieles genau so aus, als sei es einer Filmkulisse entsprungen, nur dass es echt war. Ordentliche schmale, verklinkerte Stadthäuser mit Sprossenfenstern, die sich dicht aneinander drängten – jedes mit einem eigenen schmalen Gärtchen. Majestätische Laternen auf der London Bridge. Altehrwürdige gotische Bauten, die sich uralt und respekteinflößend hinter Grünflächen mit Trauerweiden aufrichten.

Ich war hingerissen von Westminster. Der riesige Gebäudekomplex des House of Parliament, der Big Ben, der neugierig die Themse auf- und abblickt und die elegante Westminster Abbey.

 

 

 

Der Januar kann eine herausfordernde Zeit sein, um London zu besuchen – das mussten wir schnell feststellen. Der Himmel war grau und es lag Sprühregen in der Luft, ganz so, wie man sich Großbritannien nun mal vorstellt. Doch dazu war es kalt und windig. Halb bahnten wir uns den Weg, halb wurden wir gewirbelt – durch das Viertel zwischen Westminster und dem Buckingham Palace. Unterwegs kamen wir an einem kleinen, würfelförmigen Haus vorbei. Die Steinfassade war alt und sah etwas schäbig aus. Auf der Rückseite prangte das farbige Relief eines Mädchens in einem blauen Kleid. Hinter den großen Fenstern standen Mannequins mit extrem glitzernden, revueartigen Kleidern. Wir passierten das kleine Haus und im Vorbeigehen zeigte sich eine schmale Steintreppe mit einer Eingangstür. Über dieser Tür befand sich ein Steinrelief: „School“. Das kleine, quadratische Häuschen war einst eine Schule gewesen – vielleicht vor Jahrhunderten. Dennoch hielt sich das winzige Gebäude wacker zwischen den kühnen Hochhäusern, den futuristischen Bauten mit Glasfassaden und den herrschaftlichen Hotels des Viertels. Es stand einfach mutig da und ließ das Leben um sich herum weiterpulsieren. Aus irgendeinem Grund bewegte mich dieser Anblick tief.

Wir bestiegen einer der doppelstöckigen Touristenbusse und ließen uns in der Oxford-Street wieder mitten in die pulsierenden Shopaholics hinein ausspucken. Wir schlenderten durch die belebten Straßen, sahen bunte Läden in hübschen Stadthäusern. Und über uns wehte – grau und verblichen – der Rest der Weihnachtsdekoration. Die schäbige Eleganz der Straße war gleichzeitig lebendig und zurückhaltend.

Allmählich wurde uns kalt wie uns der Wind so durch Londons Straßen peitschte und sich der Sprühregen in jede Falte unserer Kleider setzte. Die Schaufenster eines kleinen Ladens machten genau in der richtigen Sekunde auf die richtige Art und Weise auf sich aufmerksam:

 

Wir aßen die unglaublichsten Crêpes mit Schokolade und Früchten und wärmten uns mit einem Minztee auf.

Auf dem Weg zurück zu unserem Hotel an der Tower Bridge nahmen wir wieder den Touri-Bus. Ein begeisterter Londoner Herr erzählte uns etwas über die Sehenswürdigkeiten. Wir hätten auch alles via Kopfhörer auf Deutsch hören können, aber das British-English klang einfach so viel schöner. Aufgeräumt, höflich, aber auch irgendwie mit einem gewissen Bisschen Humor. Ich wünschte mir, ich könnte mich noch so gut an das britische Englisch erinnern, das wir in der Schule gelernt hatten. Ich hatte mir solche Mühe gegeben mir die – vermeintlich – coolere amerikanische Aussprache anzugewöhnen, dass es mir nicht mehr richtig über die Lippen kam. Dabei klingt es doch so gut.

Wir kamen an Pubs vorbei mit beschlagenen Fenstern und grünen Holzfassaden. Die Namen der Pubs standen oft in großen goldenen Lettern über der Front – meist trugen sie noch den gleichen Namen wie vor vielen Jahrzehnten, als Berühmtheiten wie Hemingway dort regelmäßig einkehrten.

London ist stolz auf seine Geschichte. Und auch die Teile der Londoner Vergangenheit, die nicht ruhmreich waren, hat die Stadt akzeptiert und in ihre Geschichte eingewoben. Man flüstert sich Geschichten von Leichen zu, die unter Londoner Gebäuden noch begraben sein sollen. Drei ehemalige Aufrührer, die herumspuken, ein König, dessen Grabstädte unter einem Parkhaus zum Vorschein gekommen war. Und immer wieder die „shabby Houses“, die sich stolz neben den neuen Gebäuden behaupten.

Hoch oben in der Skygarden-Bar nahmen wir unseren Abschiedscocktail und jammerten in unsere pinken Drinks, weil die Zeit so schnell vorbei gegangen war. Von unten blinken die freundlichen Stadtlichter, aus der Ferne strahlten die Wolkenkratzer. So weit oben über den Dingen kam es mir vor, als könnte ich manche Dinge klarer sehen – trotz des Cocktails.

Was war es, das mich an London immer so angezogen hatte, obwohl ich die Stadt noch nie besichtigt hatte? Es war ziemlich schwer in Worte zu fassen.

Was waren die Dinge, die mich emotional so gepackt hatten, die Momente?

Die nächtliche Tower Bridge, das kleine Schulhaus, das zwischen den großen Bauten einem neuen Zweck diente, aber immer noch tapfer stand … die Pubs, die so stolz auf ihre alten Namen waren … die Statuen, die in London so lebendig aussehen?

London hat eine seltsame, melancholische Romantik. Die Stadt ist wie ein Strauß frischer Blumen in einem staubigen, verlassenen Haus – neu und alt. Und beides fühlt sich richtig dort an, beides darf sein, beides ist – irgendwie – London.

Aber warum, dachte ich, sollte sich überhaupt irgendetwas davon ausschließen? Muss man denn zwangsläufig alles einreißen, was früher war, nur, weil man Neues erschaffen will? Könnten wir das überhaupt?

Irgendwie tragen wir doch alle unsere Vergangenheit mit uns herum. Die Vergangenheit muss gar nicht dramatisch sein oder tragisch. Manchmal ist es unser komischer Modegeschmack von damals, der uns heute peinlich ist. Eine Einstellung, die wir schon längst abgelegt haben. Entscheidungen, die wir bereuen. Trotzdem hat uns doch all das an den Ort geführt, an dem wir heute stehen. Die Vergangenheit ist da und wird immer da sein, denn wir können sie niemals mehr ändern. Warum also, sollten wir sie nicht akzeptieren und ihr ihren verdienten Platz in unserer eigenen Geschichte einräumen? Und stolz sagen: Dies ist ein Teil von dem, was mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin.

Es war erleichternd so etwas zu denken. Ich glaube, ein Stückchen von dieser Londoner Gelassenheit habe ich mir übers Meer mit aufs europäische Festland retten können. Ich hoffe, es bleibt mir noch eine Weile.

Aber egal wie – diese paar Tage in London sind jetzt unwiederbringlich Teil meiner Geschichte. Und darauf bin ich irgendwie stolz.

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