„Aufrichtigkeit ist wahrscheinlich die verwegenste Form der Tapferkeit.“ (William Somerset Maugham)
Ich bin neulich unverhofft in einen echten „Deep Talk“ gerutscht. Und die unverhofften sind ja meistens ohnehin die besten.
Es war der Tag des Firmenausflugs und es war später Nachmittag. Die Zeit, in der sich in der Regel entscheidet, wer es noch aufgeräumt und ganz professionell nach Hause schafft und wer dann zusammen mit dem „harten Kern“ noch ein oder zwei Absacker nimmt. Ich saß zwischen den Stühlen. Meine Freundin-Kollegin und Hauptbezugsperson war nicht mehr motiviert noch länger zu bleiben und neigte zum Gehen. Ich war unschlüssig und hatte noch Appetit auf den ein oder anderen Cocktail. Also entschied ich, noch zu bleiben und setzte mich zu zwei Kolleginnen, die ich zwar mochte, mit denen ich aber sonst eher wenig zu tun hatte. Es stellte sich heraus, dass unsere kleine Gruppe besagter „harter Kern“ war. Wir köpften noch eine Flasche Sekt und plauderten. Dabei stellte sich heraus, dass die eine der beiden Kolleginnen mit mir in einer Hinsicht total auf einer Wellenlänge surft: Das Interesse an Yoga, Meditation, Buddhismus, Philosophie … und diese ganze Themenecke, die die „Cool-Kids“ in der Regel mit den Augen rollen lässt. Ich meine, klar: Vegan leben, Fair Fashion – diese ganze Avocado-Soja-Latte-Turnbeutel-Fraktion hat Prinzipien und in der Regel auch irgendwie Gutes im Sinn. Aber beim Chanten, Meditieren und der ganzen spirituellen Zone hört es oft eben doch auf. Vor lauter Angst, man könnte in die Esoterik abdriften, wo ja, wie jeder weiß, sowieso Hopfen und Malz verloren ist. #nooffense natürlich.
Ich selbst halte mit dem vollen Ausmaß meines spirituellen Interesses in der Regel hinterm Berg, weil ich nicht für seltsam gelten möchte. Da ich ja sowieso christlich-katholisch erzogen bin, habe ich da natürlich auch von Haus aus ein einprogrammiertes Schuldgefühl in meinen Genen, wenn ich spirituell auf nicht-christlichen Pfaden unterwegs bin. Umso faszinierter war ich, als eben jene Kollegin, nennen wir sie kurz Lisa, vor versammelter Runde offenbarte, sie gehe öfter einmal donnerstags gegenüber ins Buddhistische Zentrum zum Meditieren und höre sich dort Vorträge an. Die anderen Jungs und Mädels in unserer Runde reagierten, wie ich vermutete: Mit Häme. Einer gutmütigen Art von Häme, wie ich dazu sagen muss. Aber eben Häme. Mein Magen krampfte sich zusammen. Und gleichzeitig flog Lisa mein Herz zu und ich hing an ihren Lippen.
„Ja wie, da hockt ein Raum voller Leute und alle summen Ommmm vor sich hin? Haha.“
„Ihr hockt also quasi da rum und macht nichts. Das ist doch genau genommen Zeitverschwendung, oder?“
„Und was muss man da machen? Die Beine verknoten oder wie soll das aussehen?“
Gleichmütig wie ein Engel beantwortete Lisa alle fragen und ignorierte den Unterton. Oder es war ihr einfach egal. Und dann platzte es aus mir heraus:
„Das ist ja total interessant. Da würde ich auch gerne mal mitgehen.“
Schockmoment. Alle Blicke auf mir. Ich hatte mich aus der Deckung gewagt. Aber ich war ja nicht allein und in Lisas Windschatten war das plötzlich auch gar nicht mehr so schlimm.
Wahrhaftigkeit ist Freiheit
Das wirklich Sagenhafte an der Sache: Wider Erwarten verachtete mich niemand dafür, dass ich mich „offenbart“ hatte. Klar, natürlich kicherten die anderen, zogen Lisa und mich auf, machten ihre Witzchen. Aber keiner verurteilte uns wirklich. Und, warum sollten sie auch? Mögen sie mich für schräg halten, für seltsam, verschroben. Aber mal ehrlich: So what?
Als der Abend endete, war ich so … frei. Ich fühlte mich gelöst, unbeschwert und ich war irgendwie eins mit mir und der Welt. Voller Liebe. (Auch wenn der ein oder andere „Absacker“ im Spiel gewesen war.)
Ohne es forciert zu haben, spürte ich in diesem Moment, was Satya bedeutet – das zweite große Gebot auf dem achtfachen Yogapfad. Satya bedeutet frei übersetzt „Wahrhaftigkeit“ und gebietet uns, ehrlich, aufrichtig und authentisch zu sein – gegenüber anderen aber auch gegenüber uns selbst.
Was Satya meint – und was nicht
Dass Ehrlichkeit eine Tugend ist, bekommen wir in der Regel schon als kleine Kinder eingebläut. „Lügen haben kurze Beine“ heißt es beispielsweise oder „Ehrlich währt am längsten“. Kindern wird die Geschichte von Pinocchio erzählt, dem die Nase jedes Mal ein Stückchen länger wächst, wenn er lügt. Ehrlichkeit ist also wichtig, das ist kein Geheimnis. Aber Ehrlichkeit um jeden Preis? Leider wird Ehrlichkeit heutzutage oft missbraucht und zu einer fiesen Waffe umfunktioniert.
„Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ich sage meine Meinung. Und wem das nicht passt, der kann mich mal.“
Kommt Dir bekannt vor? Sicher kennst Du jemanden, der sich mit dieser Art „Ehrlichkeit“ brüstet. Vielleicht hast Du das auch selbst schon von Dir behauptet. Ich selbst habe mich sicher auch schon das ein oder andere Mal hinreißen lassen, mich als „ehrlichen Menschen“ aufzuspielen, um andere zu verletzen. Es ist die perfekte Waffe. Man kann anderen Gemeinheiten an den Kopf werfen, die als vermeintliche Wahrheit getarnt sind, während man für sich selbst on top die weiße Weste der absoluten Ehrlichkeit beansprucht.
Auch wenn es unsere „ehrliche Meinung“ ist, dass Kollege X ein absoluter Vollhorst ist, ist es trotzdem nicht ok, ihm diese vermeintliche Ehrlichkeit bei jeder Gelegenheit vor den Latz zu knallen. Denn, wenn wir mit unserer Ehrlichkeit andere verletzen, verstoßen wir gegen Ahimsa, das oberste Gebot im Yoga, das da eben „nicht verletzen“ heißt. Ahimsa hat also immer Vorfahrt vor Satya. Oder wie schon Voltaire sagte:
Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, solltest du auch sagen.
Das Problem mit der Authentizität
Die andere Seite der Wahrhaftigkeit, nämlich der Anspruch authentisch zu sein, ist ebenfalls ein ziemlich zweischneidiges Schwert. Die Blogger haben längst die Authentizität für sich entdeckt (und lange nicht nur die). Authentisch-Sein ist das absolute Gütesiegel. Wer ganz authentisch und gleichzeitig der Hammer ist, der hat sich seine Follower auch ganz ehrlich (!) verdient. Wehe aber dem, der sich als fake erweist.
Letztendlich ist niemand, und schon gar nicht in der Welt des Internets, wirklich authentisch. Niemand! Wir zeigen der (Internet-)-Welt immer nur gewisse, wohl ausgewählte, Seiten von uns. Wenn die jeweils authentisch sind – hurra! Und wenn nicht, wäre das auch nur menschlich. Und außerdem: Vollkommen ok. Niemand muss dem anderen auf die Nase binden, dass er gerne seine Popel isst, um authentisch zu sein. (Nein, ich esse keine Popel. Wirklich nicht.) Authentizität bedeutet nicht, dass wir jede unserer Facetten gewaltsam ans Tageslicht zerren müssen. Aber es bedeutet, dass wir uns nicht in eine Form pressen, in die wir einfach nicht passen, nur weil wir denken, wir müssten so sein.
Als ich 16 Jahre alt war, saß ich mit einer Freundin im Piercing-Studio. Ich schwitzte Blut und Wasser, aber ich war dort, um mir ein Bauchnabel-Piercing stechen zu lassen. Hatte tierisch Angst davor, dass man mir gleich ein Loch in den Bauch stechen würde. Es gefiel mir auch nur so mittel gut. Aber ich hatte den Ruf „brav“ zu sein und ein Piercing schien mir die angemessene Art zu sein, der Welt zu zeigen, was für ein Badgirl ich doch war. Als meine Freundin an der Augenbraue blutend aus dem „Behandlungszimmer“ kam, verließ mich jedoch der Mut. Heute bin ich froh darum.
Die Wahrheit ist: Ich war ein braves Mädchen. Bis zum heutigen Tage bin ich sehr gutgläubig. Ich habe noch keine Straftat begangen, außer ein paar wenige Male ohne Fahrschein gefahren zu sein (und selbst da wäre ich jedes Mal am liebsten vor Scham im Boden versunken). Als ich 16 war, war es nicht „cool“ so zu sein. Ich weiß nicht, ob es heute cool ist. Aber so bin ich eben. Zumindest jetzt.
Wahrhaftig sein bedeutet sich verändern dürfen
Authentizität bedeutet aber auch nicht, dass wir in Stein gemeißelt sind. Mahatma Gandhi sagte:
Ich bin der Wahrheit verpflichtet, wie ich sie jeden Tag erkenne, und nicht der Beständigkeit.
Das bedeutet, wir dürfen uns irren. Unsere Meinungen und Ansichten ändern. Prinzipien über den Haufen werfen und neue erstehen lassen. Aus diesem Grund sollten wir vorsichtig mit Pauschalurteilen sein, über uns selbst und andere. Bloß weil wir heute so sind, müssen wir nicht für immer daran festhalten, um wahrhaftig zu sein. Aber sowohl beim Festhalten als auch beim Verändern ist eine Zutat wichtig:
Wahrhaftigkeit erfordert Mut
Wenn wir Satya befolgen wollen, dann kommen wir um ein gewisses Portiönchen Mut nicht herum. Das Wort „aufrichtig“ ist verwandt mit „aufrecht“ – wir müssen Rückgrat beweisen, wenn wir wirklich wahrhaftig sein wollen. Dazu gehört in gewisser Weise auch, für Werte einzustehen, die wir als wahr erkannt haben. Nichts einfach abzunicken, was wir für ungerecht halten, um ein unangenehmes Gespräch zu vermeiden. Uns selbst nicht zu verstecken, zu verbiegen, Fähnchen im Wind zu spielen. Anderen nicht nach dem Mund zu reden, uns nicht auf Teufel komm raus einzuschleimen und anderen etwas vorzuspielen, weil wir uns Vorteile davon erhoffen.
Es ist aber nicht nur eine Bürde mit der Wahrhaftigkeit, auch wenn Satya traditionell zu den Enthaltungen zählt. Wir verzichten zwar auf Verstellungen und Lügen, die unseren Alltag etwas bequemer machen könnten („Ah sorry, ich kann heute Abend doch nicht kommen, meine Oma hat Geburtstag und außerdem ist mein Papagei krank“). Aber gleichzeitig erhalten wir etwas: Freiheit. Dieses gelöste, beschwingte, unbeschwerte Gefühl, wie ich es hatte, als ich mich traute mit Lisa über den Buddhismus zu reden, obwohl die anderen uns belächelten. Das Gefühl offen zu sich zu stehen und sich selbst zu erlauben man selbst zu sein ist die pure Liebe und ein Geschenk. Man surft mit sich selbst auf einer Wellenlänge, alles passt, ist rund, ist eins. Und letztendlich kann man so auch eine Verbindung schaffen und andere Herzen quasi „im Sturm“ erobern, so wie Lisa meines erobert hat. Wenn jemand wirklich wahrhaftig ist, dann fällt das auf. Es wärmt, es strahlt, es tut gut sich in der Nähe einer solchen Person aufzuhalten. Es ist ein seltener Schatz.
Ich habe mir für den Juni vorgenommen, an meiner eigenen Wahrhaftigkeit zu arbeiten und Satya zu üben. Ich bin gespannt, wie es mir gelingt. Aber die gute Absicht ist sicherlich schon einmal der erste Schritt. Und Gandhi habe ich bestimmt auch auf meiner Seite. Sagte er doch:
Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.